„Am Ende wird ein Netzwerk stehen“

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

10.08.2023

Kultur

Mit Erreichen des Zielorts Schengen (Luxemburg) am 14. Juli schloss die in Isselhorst lebende Aktionskünstlerin Nirgül Kantar-Dreesbeimdieke erschöpft, aber glücklich, die erste Etappe ihres spektakulären Projekts „Europäischer Künstlerweg“ ab. Im Gepäck: ein Füllhorn an Begegnungen, Eindrücken, Emotionen und die Gewissheit, das Langzeitprojekt zu einem nachhaltigen Erfolg führen zu können. Mit gt!nfo sprach Nirgül über ihre persönlichen Erfahrungen während der Reise.

 

Nach dem 1.300Kilometer langen Kunst- und Kulturmarathon durch Deutschland und die Benelux-Länder, den über 100 Veranstaltungen, die du mit vorbereitet und besucht und den hunderten von Kontakten, die du geknüpft hast, nach 63 Tagen mit wenig Schlaf: Wie ist dein emotionaler und körperlicher Zustand heute? Erschöpfung? Euphorie? Glück? Wie geht es dir jetzt?

 

Nirgül: Mir geht’s gut! Ich bin glücklich, wie alles gelaufen ist. Es haben sich unfassbare Kooperationen während der Reise entwickelt, die das Projekt insgesamt nachhaltig machen. Vor allem: Meine Botschaft, ein Künstlerband durch Europa zu knüpfen, das ausdrücklich auch besondere Menschen, wie wir sie nennen, mit teilnehmen lässt, ist angekommen. Kunst gehört allen Menschen, auch Menschen mit Down-Syndrom, geistig eingeschränkten Menschen und anderen. Ich will die Inklusion, ich meine das ernst. Was ich dabei an Emotionen empfangen habe, berührte mich intensiv. Ich habe fast jeden Tag geheult vor Dankbarkeit. Und ich weiß heute, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Offen gesagt, habe ich das vorher aber auch schon gewusst. Aber ich habe jetzt den Beweis.

 

Du gehst für deine Projekte immer bis ans Limit. Woher nimmst du die Energie für die Kreation deiner Arbeiten, die intensive Vorplanung, den bürokratischen und den technischen Aufwand, die Umsetzung?

 

Nirgül: Das ist nicht klassische Arbeit, die du vielleicht meinst. Ich liebe dieses exzessive Eintauchen in meine Projekte. Das bin ich. Ich kann gar nicht anders. Ich fühle mich durch und durch als Künstlerin, ich lebe mein Leben. Trotz aller Anstrengungen unterwegs: Für mich war das alles noch viel zu wenig.

 

Welche Grundidee von deiner europäischen Reise hat sich als goldrichtig erwiesen? Worauf möchtest du niemals verzichten?

 

Nirgül: Das Wichtigste für mich ist: größtmögliche Unabhängigkeit, natürlich im Rahmen der vereinbarten Kooperationen, damit ich immer im ursprünglichen Sinn des Projekts handlungsfähig bleibe. Deswegen werde ich 2024, wenn ich die Reise von Schengen aus durch Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland fortsetze, sogar komplett alleine unterwegs sein – ohne Fotograf, ohne technischen Helfer. Ich weiß jetzt, dass es für jeden, der mit mir unterwegs ist, viel zu anstrengend wird auf Dauer. Ich will das anderen nicht zumuten. Allerdings werde ich im kommenden Jahr mit einem Wohnmobil reisen, das mir weitgehend vom Gütersloher Wohnmobilverleiher Bon Voyage gesponsert wird. Ich bin der Inhaberin Carolin Kramme so dankbar dafür! Sie ist meine erste Sponsorin für 2024! Und ich möchte mich an dieser Stelle auch noch einmal ganz herzlich bei der Bürgerstiftung Gütersloh bedanken, die meine Vernissage der auf der Reise gesammelten Kunstwerke am 6. August hier in Isselhorst so großzügig unterstützt hat!

 

Was war für dich der schwerste Teil der Reise durch Deutschland, Holland, Belgien und Luxemburg?

 

Nirgül: Wenn ich Probleme hatte, dann lag es nur an der Technik. Leider hatte ein Teammitglied, das mir bei der Dokumentation der Reise für Social Media gegen Bezahlung helfen sollte, und das ich in den vergangenen zwei Jahren der Vorbereitung intensiv über den von mir geplanten Aufwand der Reise aufgeklärt hatte, drei Wochen vor dem Start abgesagt. Ich musste das dann als Technik-Neuling alles selber machen, was unendlich viel Zeit gekostet hat. Das führte zu Schlafentzug und natürlich haderte ich auch noch mit den Folgen meiner Schulterverletzung im Frühsommer dieses Jahres.

 

Bist du inzwischen wieder im Alltag angekommen?

 

Nirgül: Nein, ich habe eher das Gefühl, noch gar nicht in Schengen angekommen zu sein. Das passiert wohl erst dann, wenn ich die Filme, die wir dort gemacht haben, bearbeite. Und auch die vielen anderen noch. Ich habe auf meiner Reise rund 150 Interviews mit Künstlern und Künstlerinnen aller Richtungen geführt und einige sind ja auch bereits auf Facebook und Instagram hochgeladen. Es sind so viele wunderbare, beeindruckende Menschen, die ich kennenlernen durfte!

 

Was hast du eigentlich gesagt, wenn dich unterwegs Menschen angesprochen haben, warum du ein Bild von einem Ort zum anderen bringst? Das Thema ist doch eigentlich zu komplex, um es in einem Wort zu beschreiben?

 

Nirgül: Meine Antwort war dann: „Ich zeige hiermit meinen Respekt vor den Künstlern aller Länder, die ich besuche.“ Das hat den Leuten gefallen, sie haben es verstanden.

 

Gab es auch mal eine konkrete Enttäuschung, ein Missverständnis oder einen Kontaktabbruch mit einem Künstler oder einer Künstlerin vor Ort?

 

Nirgül: In einem Fall ja: Eine Dame wünschte von mir die Bestätigung der akademischen Hintergründe aller KünstlerInnen, deren Bilder ich von Ort zu Ort getragen hatte. Sie hatte trotz vieler Gespräche nicht verstanden, dass ich eben auch Bilder von besonderen Menschen aussuchte, ich meine es ernst mit dem Inklusionsgedanken. Wir packten ihr Bild sofort ein und schickten es eine Viertelstunde später mit der Post zurück. Ich bin der Dame aber nicht böse.

 

Der immense organisatorische Aufwand, die vielen Verträge und juristischen Absicherungen, die Trademark „Europäischer Künstlerweg“, der Song zum Künstlerweg, die Drohne für den europaweiten Einsatz und so vieles mehr: wie wird das eigentlich alles finanziert?

 

Nirgül: Ich habe 16 Jahre darauf gespart. Das Projekt „Europas Künstlerweg“ war und ist halt meine Vision. Zusammengerechnet hätte ich mit meinem Mann Stefan zweieinhalb Jahre davon Urlaub machen können. Ich werde nie Geld dafür sehen, werde aber noch Förderanträge beim Land und auch auf europäischer Ebene stellen.

 

Im nächsten Jahr geht es am 14. Juni also weiter mit der zweiten Etappe, die dich nach Skandinavien führen wird. Was kommt dann?

 

Nirgül: 2025 werde ich in Isselhorst etwas Großes aufziehen. Das wird ein Ausnahmezustand. Mehr verrate ich aber noch nicht.

 

Wann wirst du das Projekt Europäischer Kulturweg beenden und was wird am Ende stehen?

 

Nirgül: Ich plane noch für sechs Jahre. Das Projekt wird im nächsten Jahr bereits Früchte tragen. Wenn ich einen großartigen Künstler mit einer Einrichtung zusammenbringe und sie zusammenarbeiten oder ich nehme einen tollen Musiker mit nach Schweden und er trifft dort auf eine Gruppe besonderer Menschen: das sind meine Projekte. Am Ende wird ein Netzwerk stehen, ein Verbund. Und vieles wird sich auch im Internet wiederfinden: Wenn ich mit einer Frau über die Demenz ihrer Mutter spreche und welchen Einfluss das auf ihre künstlerische Arbeit hat, dann kann man dieses Gespräch jetzt bei Youtube unter diesem Stichwort finden. Das alles macht mein Projekt nachhaltig.

https://www.instagram.com/europaskuenstlerweg 

https://www.facebook.com/europaskuenstlerweg

https://youtube.com/@europaskunstlerweg3227

 


Mit dieser Konstruktion trug Nirgül jeweils ein in den Zwischenstationen ihrer Europatour ausgesuchtes Bild von Ort zu Ort.

 

Am Ziel: In Schengen nach 64 Tagen Kulturmarathon mit Bürgermeister Michael Gloden (r.) und Tom Weber (Beigeordneter).

Foto: Alex Thiell, Luxemburg

 

Nirgüls Begegnungen mit künstlerisch arbeitenden Menschen in Einrichtungen aller Art bleiben für beide Seiten unvergesslich.

Foto: Karin Gosejohann

 

Europas Künstlerweg führte über Pflaster, Asphalt, Waldwege und Brückenführungen dieser Art.

Foto: Karin Gosejohann


Das Projekt

Europas Künstlerweg® ist ein von der Isselhorster Aktionskünstlerin Nirgül Kantar-Dreesbeimdieke initiierter inklusiver Kunst- und Kulturmarathon quer durch Europa, der bis 2030 die meisten europäischen Länder miteinander verbinden soll. Ziel dieses ambitionierten Projektes ist es, den BürgerInnen in Europa einen niederschwelligen Zugang zu allen Arten von Kunst jenseits der großen Städte zu ermöglichen und KünstlerInnen mit als auch ohne Behinderung eine Plattform zu bieten. Europa soll in all seiner Vielfalt kulturell erfahrbar, das Interesse an Kunst, Kultur und Inklusion gestärkt werden. Ziel ist auch, dass sich nachhaltige internationale Netzwerke zwischen allen am Projekt teilnehmenden KünstlerInnen, Einrichtungen und Kommunen entwickeln.

Am 14. April 2023 fiel der Startschuss für die erste Etappe dieses menschenverbindenden Projektes. Von Borgholzhausen führte der 1.300 km lange Weg, den Nirgül größtenteils zu Fuß zurücklegte, in 30 Etappen über die Niederlande und Belgien bis nach Luxemburg.

Auf der von Nirgül gezogenen rollenden Staffelei befand sich von Etappe zu Etappe ein jeweils neues Gemälde, welches sie unterwegs eingesammelt hatte. Zielort war Schengen, Luxemburg, wo sie am 14. Juni, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Abkommens zur Abschaffung der Grenzkontrollen, ankam. Dort wurden alle die im Verlauf der Strecke eingesammelten Werke ausgestellt.

In den 64 Tagen gab es mehr 100 Veranstaltungen, Interviews und vieles mehr. Mit dem Projekt hat Nirgül unzählige Menschen mit oder ohne Behinderung nachhaltig berührt und es haben sich enge grenzüberschreitende Freundschaften gebildet.


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